Christof Lammer in China

15.07.2016

Von September 2014 bis September 2015 führte der Kultur- und Sozialanthropologe Christof Lammer als Gastdoktorand an der Chinesischen Volksuniversität in Beijing eine einjährige ethnographische Feldforschung in der Provinz Sichuan durch.

In seiner Dissertation beschäftigt sich der Nachwuchswissenschafter damit, wie globalisierte Ideen und staatliche Politiken, die auf ländliche Entwicklung abzielen, in einem Lebensmittelnetzwerk in China ausverhandelt werden. Der Chinaaufenthalt wurde durch ein Marietta Blau Stipendium ermöglicht.

  • Warum haben Sie sich für einen Auslandsaufenthalt in China entschlossen? Inwiefern war dieser für Ihre Forschung wichtig?

Mit meiner Entscheidung als Chinaanthropologe meine Ausbildung in der Sinologie und der Kultur- und Sozialanthropologie zu verknüpfen, war klar, dass weitere Chinaaufenthalte zu meinem Leben dazugehören. In meiner Dissertation interessiere ich mich für die Aushandlung von ‚ländlicher Entwicklung’ in Lebensmittelnetzwerken in China. Diese Lebensmittelnetzwerke beginnen zu entstehen, als angesichts von sozialen Unruhen, Lebensmittelskandalen und Umweltverschmutzung das öffentliche Interesse an den sogenannten ‚drei ländlichen Problemen’, ‚den Bauern, der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum’, seit den frühen 2000er Jahren in China stark ansteigt. Dabei handelt es sich um dichte Beziehungsnetzwerke zwischen Wissenschafter*innen, NGOs, städtischen Konsument*innen, lokalen Staatsbeamt*innen und Dorfbewohner*innen. Die einjährige ethnographische Feldforschung in einem Dorf in Sichuan ermöglichte mir, Interaktionen zwischen ‚Staat’, ‚Zivilgesellschaft’ und ‚Bauern’ zu untersuchen, in denen unterschiedliche Vorstellungen über Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Erziehung in Praktiken übersetzt werden. Durch die lange Dauer des Feldaufenthaltes konnte ich Vertrauen und Beziehungen mit den Leuten vor Ort aufbauen und an ihrem Leben teilnehmen. Durch die teilnehmende Beobachtung erfahren wir nicht nur, was Menschen sagen, dass sie tun, sondern auch, was sie – in unterschiedlichen Situationen – tatsächlich tun. So werden auch Prozesse erfassbar.

  • Was ist Ihnen von Ihrer Zeit in Sichuan besonders in Erinnerung geblieben? Was war besonders überraschend/aufregend?

Fasziniert hat mich, wie vielfältig die Vorstellungen über ‚die Bauern’, ‚die Beamten’, ‚den Staat’, ‚die Unternehmer’, ‚das Ländliche’ und ‚das Städtische’ sind, wie sich diese teils romantisierenden, teils missbilligenden Bilder widersprechen, wie aber dennoch ein Lebensmittelnetzwerk entsteht. So wird die Sorge um Gesundheit, Umwelt und ‚traditionelle ländliche Kultur’ sowie der Wunsch der städtischen Konsument*innen nach ‚Bauernfreunden’, der sich auch aus dem Misstrauen gegenüber ‚dem Staat’ erklärt, im Dorf ambivalent als zusätzliche Belastung aber auch als Einkommensmöglichkeit wahrgenommen. Gleichzeitig könnten diese Wünsche nicht umgesetzt werden, würden nicht staatliche Unterstützung und verschiedene Sorgepraktiken die Produktion von Bio-Reis und ökologischem Gemüse durch die Genossenschaft ermöglichen. Oft denke ich jetzt während der Analyse des ethnographischen Materials an Menschen, die mir im Laufe des Aufenthaltes begegnet sind, vor allem an meine Gastgeber im Dorf, die sich auf die ungewisse Herausforderung eingelassen haben, den Fremden im Haus aufzunehmen. Im Laufe des Jahres wurden sie zu hervorragenden Lehrenden für mich, nicht nur in Bezug auf den lokalen Dialekt. Es war ein Jahr mit tragischen Trauerfällen, anstrengender Feldarbeit, aber auch schönen Feierlichkeiten und gutem Essen. Ich freue mich schon, sie das nächste Mal wiederzusehen.

  • Haben Sie Tipps für andere DoktorandInnen für die Planung und Durchführung eines Auslandsaufenthaltes?

Die Herausforderungen können von Land zu Land und je nach Ziel und Dauer des Aufenthaltes sehr unterschiedlich sein. Im Falle einer längeren ethnographischen Feldforschung in China etwa, spielt neben der grundlegenden Finanzierungsfrage nicht nur die für viele Länder ebenso relevante Visumsfrage eine große Rolle, sondern auch, ob die Forschung von den lokalen Regierungen letztendlich geduldet wird. Ein Kollege musste seine Feldforschung abbrechen und in einer anderen Gegend neu beginnen. Allgemein macht es bestimmt Sinn, Plan B und C bei den einzelnen Fragen selbst dann voranzutreiben, wenn der Erfolg von Plan A bereits so gut wie gesichert erscheint.

Ethnologe Christof Lammer forschte ein Jahr in Sichuan in einem Dorf, das sich als ‚ökologisch’ positioniert.